Eindrücke von der Kreisau-Reise 2025
Vom 22. bis 26. Juni reiste die Freya von Moltke-Stiftung erstmals in Kooperation mit der Forschungsgemeinschaft 20. Juli e. V. zur jährlichen Bildungsfahrt nach Kreisau/Krzyżowa. Der geschichtsträchtige Ort der Versöhnung und Verständigung bot einen eindrucksvollen Rahmen für ein intensives Programm, das sich über mehrere Tage verschiedenen thematischen Schwerpunkten widmete. Im Zentrum standen das Weltbild des Kreisauer Kreises, das deutsch-polnische Verhältnis, Fragen von Heimat und Identität in Niederschlesien sowie europäische Perspektiven.
Einen wichtigen inhaltlichen Impuls setzte der einführende Vortrag von Dr. Franziska Davies zum andauernden, vollumfänglichen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ihr Appell, die Ukraine nicht zu vergessen, sondern aktiv gegen die imperialistische Aggression Russlands einzustehen, betonte die Bedeutung europäischer Solidarität, starker zwischenstaatlicher Beziehungen und einer klaren Abkehr von nationalistischen Großmachtbestrebungen.

Vom Kreisauer Kreis zum Neuen Kreisau
Ein Ort der Begegnung und Verständigung
In Kreisau wurde die enge Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart auf besondere Weise erlebbar. An dem Ort, an dem sich 1942 und 1943 die Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis traf, befindet sich heute eine der größten internationalen Gedenk- und Jugendbegegnungsstätten Europas. Durch Vorträge, thematische Führungen und Gespräche mit Nachkommen des Kreisauer Kreises begaben sich die Teilnehmenden auf Spurensuche: Wie aktuell ist das Gedankengut der damaligen Gruppe noch heute? Auffällig war etwa die zentrale Rolle von Frauen und Müttern, die weit über ein traditionelles Rollenverständnis hinausging. Auch fanden sich in den Schriften des Kreisauer Kreises bereits dekoloniale Fragestellungen, etwa zur indischen Unabhängigkeit.
Immer wieder wurde die Vielfalt und Dialogfähigkeit der Widerstandsgruppe betont: Im Kreisauer Kreis begegneten sich Adelige und Bildungsbürger, Konservative und Sozialisten, Katholiken und Protestanten – vereint im Einsatz für eine demokratische Zukunft Deutschlands. Prof. Dr. Joachim Scholtyseck beschrieb den Kreisauer Kreis als Vordenker des heutigen Europas und als ideellen Wegbereiter des Grundgesetzes: Föderale Strukturen, die vollständige Gleichberechtigung von Minderheiten im Bildungs- und Kulturbereich sowie moralische Integrität prägten ihr Denken. Die häufig geäußerte Kritik, der Kreisauer Kreis sei in Teilen utopisch und weltfremd gewesen, bleibt offen zur Diskussion.
Im Geiste dieser historischen Vorbilder und der deutsch-polnischen Versöhnungsmesse, die 1989 in Kreisau stattfand, setzt das Neue Kreisau seine friedensstiftende Arbeit fort. Dr. Anna Poznańska und Dr. Robert Żurek gaben einen eindrucksvollen Einblick in die pädagogische Arbeit der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung. Junge Menschen begegnen sich hier über Ländergrenzen hinweg, lernen voneinander und überwinden Vorurteile. Eine zentrale Botschaft durchzieht die Vergangenheit und Gegenwart Kreisaus: Dialogfähigkeit steckt in uns allen – es lohnt sich, einander zuzuhören, aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen. Besonders die trilateralen Begegnungen zwischen Polen, Deutschland und der Ukraine stehen heute im Mittelpunkt der Jugendarbeit vor Ort. Die Reiseteilnehmenden erlebten dabei hautnah die verbindende Kraft von Kreisau.
Nuancen des deutsch-polnischen Verhältnisses
Zwischen Belastung und Potenzial
Ein weiterer Schwerpunkt der Reise war das deutsch-polnische Verhältnis – geprägt von einem schweren historischen Erbe, aber auch von Hoffnung auf Verständigung. Besonders der Besuch der Gedenkstätte des KZ Groß-Rosen machte das Ausmaß nationalsozialistischer Verbrechen gegen die polnische Bevölkerung erschütternd deutlich. Prof. Dr. Sebastian Fikus beleuchtete Helmuth James von Moltkes Engagement für polnische Belange. Moltke, ein entschiedener Befürworter der Zusammenarbeit mit Polen und eines gerechten Ausgleichs, sprach sich unter anderem für Gebietsabtretungen an Polen aus – als Reparation für das Unrecht und die Aggressionen des NS-Regimes. Seine moralische Klarheit wird in der Erinnerungskultur häufig unterschätzt.
Prof. Dr. Leszek Żyliński lenkte den Blick auf Unterschiede in der aktuellen polnischen und deutschen Erinnerungskultur: Verschiedene Jahrestage des Zweiten Weltkrieges werden in Polen und Deutschland etwa unterschiedlich stark erinnert. Die Bedeutung von Austausch und Begegnung wurde einmal mehr deutlich: um aus der gemeinsamen Geschichte heraus gegenseitiges Verständnis zu vertiefen und die Andersartigkeit des Nachbarlandes nicht nur kennenzulernen, sondern zu schätzen – und um gemeinsame Menschlichkeit zu entdecken. Auch wurde die Asymmetrie im Spracherwerb thematisiert – viele Polinnen und Polen sprechen Deutsch, während es umgekehrt oft an Sprachkenntnissen mangelt.
Die Gruppe war sich einig: Bildung, Sprachenlernen und persönliche Begegnungen sind entscheidend für ein gutes Miteinander. Frauke Geyken und Annemarie Franke setzten einen hoffnungsvollen Impuls, indem sie zwei inspirierende Brückenbauerinnen vorstellten, die deutsch-polnische Verständigung gelebt haben: Freya von Moltke und Ewa Unger. In ihren Biografien spiegeln sich Resilienz und Menschlichkeit. Ewa Ungers Satz „Das sind keine Feinde, sondern Menschen“ bleibt als eindrucksvolle Mahnung in Erinnerung.
Polnisches Leben in Niederschlesien
Heimat, Identität und europäische Perspektiven
Mit einer eindringlichen Lesung aus ihrem Buch „In den Häusern der Anderen“ eröffnete Karolina Kuszyk im Gespräch mit Friederike Partzsch einen sensiblen Zugang zu Fragen von Heimat und Identität in den ehemals deutschen Gebieten Niederschlesiens. Kuszyk zeigte anhand von konkreten Gegenständen, wie schwierig es für viele Polinnen und Polen war – und ist – in diesen Räumen Zugehörigkeit zu empfinden. Sie plädierte dafür, sich von einer binären Sichtweise auf Deutsch und Polnisch zu lösen und stattdessen eine europäische Perspektive einzunehmen, um komplexe Identitäten besser zu verstehen.
Bei einem Tagesausflug nach Breslau/Wrocław wurden diese Themen weiter vertieft. Die Breslauerin und erfahrene Reiseführerin Renata Bardzik-Miłosz brachte den Teilnehmenden die lebendige Geschichte der Stadt näher, mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem jüdischen Leben. In der Ausstellung „Breslau 1945–2016“ im Zentrum für Geschichte Zajezdnia beeindruckten die Teilnehmenden besonders die Spuren von Krieg, Vertreibung und Fremdherrschaft – oft in einem Ausmaß, das vielen vorher nicht bewusst war. Gleichzeitig zeigte die Ausstellung das lebendige polnische Leben der Nachkriegszeit, etwa durch die Solidarność-Bewegung, Kunst und Alltagskultur – als Ausdruck von Widerstandskraft, Hoffnung und Selbstbehauptung.
Fazit: Die Kraft von Kreisau
„Es war ein wenig wie Heimkommen nach einer langen Phase der Vereinzelung. Ich habe hier Menschen getroffen, deren Grundwerte übereinstimmen, mögen auch die Beurteilungen von aktuellen politischen Lagen auseinandergehen.“
Reiseteilnehmerin Sabine Junge aus Hamburg
Die Freya von Moltke-Stiftung für das Neue Kreisau bedankt sich herzlich bei allen Referierenden, Teilnehmenden und Unterstützer:innen. Die Reisegruppe zeichnete sich durch große Offenheit und Engagement aus – selbst ein gewitterbedingter Stromausfall konnte die intensiven Begegnungen und Gespräche nicht beeinträchtigen.
Kreisau wirkt: als Ort des Dialogs, der Verständigung und des europäischen Miteinanders. Die gesammelten Erfahrungen bestärken uns in unserem Auftrag, Räume für Begegnung, kritische Auseinandersetzung und demokratische Bildung zu schaffen. Wir danken allen, die durch ihre Spenden diese wichtige Arbeit ermöglichen.